Bei der Variablenanalyse handelt es sich um eine phonetisch-phonologische Auswertungsmethode, die eine quantitative Erfassung regionalsprachlicher Varianten in Sprachaufnahmen ermöglicht. Damit trägt sie einen wesentlichen Teil dazu bei, die Regionalsprachlichkeit einer Sprachaufnahme zu erfassen und lässt verschiedene Sprachaufnahmen hinsichtlich ihrer Variantenprofile gegenüberstellen (vgl. dazu u. a. Kehrein 2012).
Arbeitsschritte
Eine Variablenanalyse setzt sich aus zwei Arbeitsschritten zusammen:
1. Die Bestimmung der Variable und ihrer Varianten
2. Das Auszählen der Varianten in einer Sprachaufnahme, die häufig als Frequenzanalyse bezeichnet wird.
Zu 1. Variablendefinition:
Um eine Variable und die ihr zugeordneten Varianten zu bestimmen, wird in der Regionalsprachenforschung sowohl auf das standardsprachliche als auch auf historische Bezugssysteme zurückgegriffen. Unter Berücksichtigung des standardsprachlichen Bezugsysstems wird in der Regel auf gängige Aussprachewörterbücher referiert; bei historischen Bezugssystemen bieten sich oft die mittelhochdeutschen Vokale oder westgermanischen Konsonanten an.
Welche Relevanz die Wahl des Bezugssystems hat, wird am standardsprachlichen Diphthong /a͡ɪ̯/ (vgl. Duden 2023) in heiß und Eis ersichtlich: Dort, wo sich heute standardsprachliches /a͡ɪ̯/ findet, liegen im Mittelhochdeutschen zwei unterschiedliche Laute vor:
- in heiß: mhd. ei, das „äi“ ausgesprochen wurde
- in Eis mhd. î: das als langes i ausgesprochen wurde.
Diese etymologische Differenz ist in den mittelbairischen Dialekten noch heute erhalten und führt dazu, dass der Diphthong in heiß „oa“ gesprochen wird, also „hoaß“. Gleichzeitig hat sich im Zuge der nhd. Dipthongierung mhd. î zum Diphthong „äi“ entwickelt, also „Äis“ für Eis.
Würde man in diesem Fall ausschließlich das standardsprachliche Bezugssystem berücksichtigen, könnte „äi“ in Eis im mittelbairischen Dialekt standardnäher interpretiert werden als „oa“ in heiß, obwohl – historisch betrachtet – mit beiden Varianten eine dialektale Form wiedergegeben wird (vgl. Limper 2024, 65–67). Die Bestimmung einer Variable erfordert demnach nicht nur eine phonetisch-phonologische Erfassung der Varianten, sondern auch eine sprachhistorische Fundierung.
Die Tabelle in Abb. 1 gibt eine Übersicht über Variablen und ihre Varianten, die für den REDE-Ort Waldshut-Tiengen (REDE-Ortssigle: WT) im Rahmen des REDE-Projekts untersucht wurden (vgl. Kehrein 2012, 141; vgl. das REDE-Ortsnetz):
Zu 2. Frequenzanalyse:
Nachdem die Variable mit ihren Varianten bestimmt wurde, werden die Sprachaufnahmen angehört und die Häufigkeit der Varianten notiert (sog. Frequenzanalyse). Die im REDE-Projekt entstandenen variationslinguistischen Arbeiten (siehe Abschnitt unten) berücksichtigen hierfür in der Regel alle drei Sprechergenerationen (jung, mittel, alt) an mehreren REDE-Orten vergleichend für eine oder mehrere Dialektregionen in den folgenden REDE-Aufnahmesituationen:
- die Übertragung der 40 Wenkersätze in die intendierte Standardsprache (WS ISS)
- das leitfadengesteuerte Interview mit einer Exploratorin bzw. einem Explorator (I)
- das freie Gespräch/Freundesgespräch mit einem vertrauten Gesprächspartner oder einer vertrauten Gesprächspartnerin in Abwesenheit der Exploratorin bzw. des Explorators (FG)
- die Übertragung der 40 Wenkersätze in den intendierten Ortsdialekt (WS IOD)
Die Tabelle in Abb. 2 zeigt die Ergebnisse einer solchen Frequenzanalyse für den jungen REDE-Sprecher (WTJUNG1) aus dem REDE-Ort Waldshut-Tiengen. In der Spalte ganz links sind die untersuchten Variablen (in Abb. 2 als „Variationsphänomen“ bezeichnet) gelistet, rechts davon sind die relativen Häufigkeiten der Variationsphänomene angegeben und zwar differenziert nach REDE-Aufnahmesituation (Spalten von links nach rechts): „Dialektkompetenz“ (= WS IOD), Freundesgespräch, Interview und „Standardkompetenz“ (= WS ISS).
Auswahl an Publikationen im REDE-Projekt mit Variablenanalysen
Für variationslinguistische Arbeiten verschiedener Sprachräume in Deutschland, die im Rahmen des REDE-Projekts entstanden sind, ist die Variablenanalyse eine zentrale Auswertungsmethode. Umfangreiche Variablenanalysen finden sich unter anderem in:
- Limper, Juliane (2024). Regionalsprachliche Spektren im Bairischen. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 195).
- Bohnert-Kraus, Mirja (2020). Regionalsprachliche Spektren im Mittelalemannischen. Hildesheim/Zürich/New York: Olms (= Deutsche Dialektgeographie. 125).
- Vorberger, Lars (2019). Regionalsprache in Hessen. Eine Untersuchung zu Sprachvariation und Sprachwandel im mittleren und südlichen Hessen. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 178).
- Kehrein, Roland (2012). Regionalsprachliche Spektren im Raum – Zur linguistischen Struktur der Vertikale. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 152).
- Kehrein, Roland (2008). Regionalsprachliches Spektrum in der Kleinregion Waldshut-Tiengen (Hochalemannisch). Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. Online verfügbar unter: < http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2015/0001/pdf/2008_Kehrein_Spektrum_WT.pdf> (abgerufen am 15.10.2024).
Eine vollständige Liste alle im REDE-Projekt entstandenen Publikationen findet sich hier.
Literatur
Duden = Kleiner, Stefan/Knöbl Ralf (2023). Duden – Das Aussprachewörterbuch. Duden – Deutsche Sprache in 12 Bänden.
Kehrein, Roland (2012). Regionalsprachliche Spektren im Raum – Zur linguistischen Struktur der Vertikale. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 152).
Limper, Juliane (2024). Regionalsprachliche Spektren im Bairischen. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 195).