Die Dialektatlitätswertmessung (kurz: D-Wert-Messung) ist ein Verfahren zur Berechnung des phonetischen Abstands einer regionalen Sprachprobe zur kodifizierten Standardsprache bzw. deren Oralisierungsnorm.
Ziele der D-Wert-Messung
Das Verfahren wird eingesetzt, um die Dialektalität sprachlicher Äußerungen über die Messung des phonetischen Abstands zu standardsprachlichen Bezugselementen zu quantifizieren. Das Messverfahren geht auf Schmidt/Herrgen (1989) zurück und wurde anschließend für eine überregionale Anwendung einer Systematisierung unterzogen (vgl. Herrgen et al. 2001).
Der mit diesem Verfahren ermittelte Dialektalitätswert (kurz: D-Wert) einer regionalen Sprachprobe gibt den durchschnittlichen phonetischen Abstand der Sprachprobe zur kodifizierten Standardsprache pro Wort an. Mithilfe von Spektrumsanalysen können die D-Werte von mehreren Sprecherinnen und Sprechern, Generationen oder Orten in unterschiedlichen Aufnahmesituationen graphisch gegenübergestellt und damit die Ausschöpfung im vertikalen Variationsspektrum sichtbar gemacht werden. Über das REDE-SprachGIS sind Spektrumsanalysen für 60 REDE-Orte mit je einem REDE-Informanten aus einer Generation (alt, mittel, jung) verfügbar
Zum Messverfahren
Um den phonetischen Abstand und damit auch den Dialektalitätsgrad einer regionalen Sprachprobe ermitteln zu können, wird zunächst eine enge phonetische Transkription der zu messenden Sprachaufnahme nach den Richtlinien des International Phonetic Alphabet (IPA 2005) erstellt. Die im REDE-Projekt vereinbarten Transkriptionskonventionen sowie die Arbeitsschritte bei der Erstellung phonetisch-impressionistischer Transkriptionen sind auf eigenen Themenseiten dokumentiert.
Was bei der Ermittlung des D-Werts nicht berücksichtigt wird, sind morphologische, syntaktische und lexikalische Abweichungen: Ersetzt beispielsweise eine Gewährsperson bei der Übertragung der Wenkersätze in den intendierten Ortsdialekt (WS IOD) die Vorgabe „Pferd“ durch „Gaul“, wird das Wort bei der Ermittlung des D-Werts ausgeklammert. Auch realisationsphonetische Phänomene bleiben bei der Ermittlung des D-Werts unberücksichtigt. Hierzu gehört beispielsweise die Aussprache von <eben> als [eːbm̩] für standardsprachlich [eːbən] (vgl. genauere Beschreibungen finden sich auf der Themenseite Messkontrolle).
Standardsprachliche Referenz
Als standardsprachliche Referenz wurde das Duden-Aussprachewörterbuch (6. Auflage, 2005) herangezogen. Bei Differenzphänomenen zwischen einem Segment aus der regionalen Sprachprobe und seiner orthoepischen Entsprechung vergibt das Programm phonetische Abstandsmessung (kurz PAM) nach vorgegebenen Regeln Punkte zwischen 0,5 und 3. Dabei werden sowohl quantitative als auch qualitative Unterschiede berücksichtigt.
Gemessene Daten
Für valide Ergebnisse muss die Messung des phonetischen Abstands für mindestens 100 Wörtern bei Lemmalisten und 150 Wörtern in der freien Rede erfolgen (vgl. Herrgen et al. 2001, 2). Für D-Wert-Messungen im REDE-Projekt wurden für die Aufnahmesituationen der freien Gespräche (I und FG) sowie der intendierten Standardsprache (WS ISS) und dem intendierten Ortsdialekt (WS IOD) ca. 200 Wörter berücksichtigt.
In den freien Gesprächen verteilen sich die zu messenden Wörter in etwa gleichen Anteilen auf Anfang, Mitte und Ende der Aufnahme mit jeweils ca. 70 Wörtern.
Für D-Wert-Messungen der WS ISS und der WS IOD wurde eine festgelegte Auswahl von 16 der 40 Wenkersätze gemessen. Die Auswahl berücksichtigte die Wenkersätze: 1-8, 15, 16, 26, 30, 33, 37, 38, 40. Der Vorlesetext „Nordwind und Sonne“ mit insgesamt etwa 110 Wörtern wurde bei der Messung vollständig berücksichtigt.
Punktevergabe
Im Vokalismus werden phonetische Differenzphänomene mit einem Maximalwert von 3 Punkten pro Segment berechnet. Im Konsonantismus ist der Maximalwert pro Segment 2 Punkte. Dabei ist es durchaus möglich, dass sich ein regionalsprachliches Segment in mehr als einer Dimension von seiner orthoepischen Entsprechung unterscheidet (vgl. dazu die Themenseite phonetische Abstandsmessung). In diesen Fällen und ebenso bei Wegfall oder Hinzufügen eines Segments werden die vorgegebenen Maximalwerte vergeben (vgl. Tab. 1).
regionale Sprachprobe vs. orthoepische Entsprechung | Differenzphänomen | Punkte |
[zɛlbɐt] vs. [zɛlbɐ] (selber) | Hinzufügen von finalem t | 2 Punkte |
[bʁa͡uxs] [bʁa͡uxst[ (brauchst) | Tilgung des finalen t | 2 Punkte |
Vokale
Zur Errechnung phonetischer Differenzen bei Vokalen werden vier Dimensionen angesetzt, die sich an den Beschreibungsebenen des Vokaltrapezes (vgl. Abb. 1) orientieren:
- Öffnungsdifferenzen oder „Stufen“: im Vokaltrapez als geschlossen–halbgeschlossen–halboffen–offen
- Lokalisierungsdifferenzen oder „Klassen“: im Vokaltrapez als vorne–zentral–hinten Kontinuum
- Lippenrundung: bei Vokalpaaren entspricht der rechts angegebene Vokal dem ungerundeten Vokal
- Nasalität
Unterschiede, die sich über eine Stufe oder einer Klasse erstrecken, werden mit einem Punkt bewertet. Größere Unterschiede werden entsprechend der Stufen- oder Klassenabstände berechnet (siehe Tab. 2). Die Dimensionen Nasalität und Lippenrundung sind binär und werden bei Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein mit einem Punkt bewertet. Beispiele für phonetische Differenzen und Punktevergaben bei Vokalen sind in Tab. 2 aufgeführt.
Die Punktevergabe bei Diphthongen orientiert sich an den Dimensionen der Vokale. Für die Ersetzung eines Diphthongs durch einen Monophthong (oder umgekehrt) wird der Maximalwert von 3 Punkten vergeben.
Zusammenfassung der Punktevergabe bei Vokalen:
- 0,5 Stufen/Klassen: 0,5 Punkte
- 1 Stufe/Klasse: 1 Punkt
- 1,5 Stufen/Klassen: 1,5 Punkte
- tendenzielle Rundungsdifferenz (mit Diakritika): 0,5 Punkte, volle Rundungsdifferenz: 1 Punkt
- Nasalitätsdifferenz: 1 Punkt
- Maximalwert (Monophthonge und Diphthonge): 3 Punkte
regionale Sprachprobe vs. orthoepische Entsprechung | Differenzphänomen | Punkte |
[vœtɐ] vs. [vɛtɐ] (Wetter) | volle Rundung | 1 Punkt |
[bʁo͡ʊt] vs. [bʁoːt] (Brot) | diphthongische Realisierung | 3 Punkte |
[vɪːzə] vs. [viːzə] (Wiese) | 0,5 Stufen nach oben/vorne von [i] zu [ɪ] | 0,5 Punkte |
Konsonanten
Die Bewertung von phonetischen Differenzen bei Konsonanten erfolgt nach den drei Dimensionen Artikulationsort, Artikulationsart und Phonation wie sie in der IPA 2005 (vgl. Abb. 3) dargestellt sind.
Bei tendenziellen Differenzen, das heißt durch Diakritika markierte Unterschiede, werden 0,5 Punkte vergeben. Volle Unterschiede werden mit einem Punkt bewertet. Beim Ausfall einer Affrikatenkomponente wie beispielweise bei [fanə] vs. [p͡fa̠nə] in Pfanne wird ein Punkt vergeben. Beispiele für phonetische Differenzen und Punktevergaben bei Konsonanten sind in Tab. 3 gegeben.
regionale Sprachprobe vs. orthoepische Entsprechung | Differenzphänomen | Punkte |
[vɪndɐ] vs. [vɪntɐ] (Winter) | volle Stimmhaftigkeit | 1 Punkt |
[haʃt] vs. [hast] (2. P. Sg. Ind. Präs. hast von „haben“) | Artikulationsort | 1 Punkt |
[bʁuːʁɐ] vs. [bʁuːdɐ] (Bruder) | Rhotazismus: Differenz von Artikulationsart (Vibrant vs. Plosiv) und Artikulationsort (uvular vs. alveolar) | 2 Punkte |
Quantitäten und Wortakzent
Bei vollen Quantitätsunterschieden, wie in [ba̠t] vs. [ba̠ːt[ (Bad) wird ein Punkt vergeben. Halbe Längenunterschiede (Diakritikum [ˑ]) werden nicht gewertet. Verschiebungen im Wortakzent wie in [bʏˈʁoː] vs. [ˈbʏʁoː] (Büro) werden mit einem Punkt berechnet.
Für weitere Erläuterungen zum Bewertungssystem mit Beispielen vgl. auch Herrgen/Schmidt (1989), Herrgen et al. (2001) und Lameli (2004).
Die Ermittlung der Differenzphänomene sowie die Punktevergabe erfolgt halbautomatisiert mithilfe des Programms PAM, kurz für phonetische Abstandsmessung, das im Rahmen des REDE-Projekts entwickelt wurde.
D-Werte und Spektrumsanalysen
Liegen für eine Gewährsperson D-Werte in unterschiedlichen Aufnahmesituationen vor, können diese in einer sogenannten Spektrumsanalyse zusammengeführt werden. Mithilfe von Spektrumsanalysen können Dialektatlitätswertmessungen (kurz: D-Wert-Messung) von mehreren Sprecherinnen und Sprechern, Generationen oder Orten in unterschiedlichen Aufnahmesituationen graphisch gegenübergestellt und damit die Ausschöpfung im vertikalen Variationsspektrum sichtbar gemacht werden. Über das REDE-SprachGIS sind Spektrumsanalysen für 60 REDE-Orte mit je einem REDE-Informanten aus einer Generation (alt, mittel, jung) verfügbar
Literatur
Duden = Mangold, Max (2005). Duden. Das Aussprachewörterbuch. 6. Aufl. Mannheim [u.a.], Duden-Verl.
Herrgen, Joachim/Schmidt, Jürgen Erich (1989). Dialektalitätsareale und Dialektabbau, In: Putschke, Wolfgang/Veith, Werner H./Wiesinger, Peter (Hg.). Dialektgeographie und Dialektologie. Günter Bellmann zum 60. Geburtstag von seinen Schülern und Freunden. Marburg, Elwert (Deutsche Dialektgeographie 90), 304–346.
Herrgen, Joachim/Lameli, Alfred/Rabanus Stefan/Schmidt, Jürgen Erich (2001). Dialektalität als phonetische Distanz. Ein Verfahren zur Messung standarddivergenter Sprechformen. Online verfügbar unter http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2008/0007/pdf/dialektalitaetsmessung.pdf (abgerufen am 27.06.2023).
IPA = International Phonetic Association (Hrsg) (2005). The International Phonetic Alphabet. Online verfügbar unter https://www.internationalphoneticassociation.org/content/full-ipa-chart#ipachartpng (abgerufen am 27.06.2023).
Lameli, Alfred (2004). Standard und Substandard. Regionalismen im diachronen Längsschnitt. Wiesbaden, F. Steiner.